Ein Erfahrungsbericht von Ralf Savelsberg
Seit mehr als 2 Jahrzehnten praktiziere ich AIKIDO.
Über all die Jahre habe ich mir erlaubt, von Repräsentanten verschiedener Schulen und Verbände zu lernen.
Oft habe ich bei diesen Ausflügen in die Aikido- Landschaft gehört:
- Du kannst nur eine Stilrichtung lernen
- Was die anderen machen, ist nicht das ursprüngliche, das wahre Aikido
- Wenn du den Verband wechselst, brauchst du bei uns nicht mehr trainieren
- Unser Stil entspricht dem, was Ueshiba gezeigt hat
- Die verschiedenen Stile sind nicht kompatibel
Die Abgrenzung gegenüber anderen Verbänden und Schulen hatte den Charakter einer Spaltung. Jeder beanspruchte für sich, das wahre Aikido zu vertreten.
Entsprechend der eigenen Wahrheitslehre hatte jeder Lehrer Erklärungsmodelle für die Richtigkeit der von ihm gezeigten Bewegungen. Diese Modelle waren in sich stimmig.
Sie begründeten, warum es effektiver und besser ist, die Bewegung auf eine bestimmte Weise auszuführen und warum es falsch ist, die Bewegung (den Eingang, den Griff, den Wurf, die Haltetechnik) anders auszuführen.
Allerdings waren die Modelle Teil eines Systems, das in sich geschlossen war.
Ein charakteristisches Merkmal für geschlossene Systeme ist es, dass sie sich nach außen hin abgrenzen. Austausch findet nur innerhalb der selbst gesetzten Grenzen statt; mit anderen Systemen (Schulen und Verbänden) ist Austausch nicht erwünscht.
Und schon gar nicht ist es erwünscht, dass sich bestehende Unterschiede im Rahmen eines Lernprozesses zu einem gemeinsamen Ganzen vervollständigen könnten.
Die Abgrenzung nach außen hat für die Mitglieder des Systems durchaus Vorteile: wenn man sich an die Regeln hält, kann man das eigene Tun als richtig empfinden, im Unterschied zu denen da draußen, die es falsch oder anders machen. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass man sich eingebunden und zugehörig fühlen kann.
Der Nachteil von geschlossenen Systemen, wie man sie überall in der Gesellschaft findet, liegt darin, dass es an Offenheit, an der Bereitschaft, voneinander zu lernen und an Integrationswillen mangelt.
In Bezug auf die Aikido- Strömungen hat das schon etwas Absurdes. Da soll es um Harmonie und um Einklang mit der universellen Energie gehen …
Und gleichzeitig fehlt es an einer grundlegenden Kontakt- Bereitschaft mit den Vertretern anderer Schulen und Verbände.
Als mir diese Muster bewusst wurden, habe ich mich umso mehr bemüht, die Grenzen zu überschreiten. Die Regeln der Abgrenzung hatten für mich keine Gültigkeit.
So stellte ich schon bald fest, dass es nicht mehr um richtig oder falsch, sondern darum ging, Wahlmöglichkeiten in den Bewegungen zur Verfügung zu haben. Unterschiedliche Ausführungen von Bewegung und Technik waren eine Bereicherung und vergrößerten die Flexibilität. Sie bildeten die Grundlage für einen spielerischen Umgang mit Variations- Möglichkeiten.
Unterschiedlichkeit entsteht alleine dadurch, dass jeder AIKIDOKA andere körperliche Voraussetzungen und motorische Fähigkeiten mitbringt.
Ein sinnvoller Lernprozess von Aikido- Bewegung beinhaltet einerseits ein
Sich-Vertraut-Machen mit einem anfänglich ungewohnten Repertoire von motorischen Fähigkeiten und andererseits das Erkunden von Ausdrucksmöglichkeiten, die für den Praktizierenden als stimmig erlebt werden und den jeweils persönlichen Konditionen angemessen sind.
So haben es die Lehrer offensichtlich auch gemacht: sie haben von ihren Lehrern das übernommen, was ihnen wichtig und charakteristisch erschien und im Laufe der Jahre das Gelernte persönlich interpretiert, so dass die Bewegungen sich kohärent anfühlten.
Sie haben sozusagen ihren eigenen Stil entwickelt.
Und Entwicklung ist schließlich das, worum es beim Lernen geht: durch üben und ausprobieren das eigene Repertoire erweitern.
Unterschiede respektieren, voneinander lernen und Gemeinsamkeiten hevorheben …
Das könnte ein konstruktiver Ansatz für ein zukünftiges Miteinander von Aikido- Vertretern unterschiedlicher Schulen ohne Abgrenzung und ohne Spaltung sein.
Die Aussage von Maruyama Sensei bringt die Aspekte Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit in einen stimmigen metaphorischen Zusammenhang:
Every river has a name. However, these names disappear when they flow into the great ocean. Aikido has many styles, many names, but Aikido is Aikido. It is my vision and hope that, like the rivers, they flow together and unite as one.
In meinem eigenen Lernprozess mit Aikido habe ich die Unterschiede zwischen den Stilen als bereichernde Variationen erlebt.
Große Unterschiede habe ich allerdings verbandsübergreifend in den persönlichen Haltungen festgestellt. Diese will ich im Folgenden etwas beleuchten.
Es geht dabei um die Fragen
- Mit welcher Absicht handle ich als Nage ?
- Wie gestalte ich den Kontakt zu meinem Übungspartner ?
Kontrolle und Macht
(die in „“ gesetzten Worte stammen aus dem Munde von Aikido- Kollegen …)
Vielfach wird Aikido im Kontext von Kampf gesehen und beschrieben. Der Zusatz Kunst mag dem ein angenehmeres Image verleihen; auch das Attribut „friedfertig“ mag beschönigen, ändert aber nichts. Zu einem Kampf gehören Gegner, die sich bekämpfen und miteinander um Sieg und Niederlage ringen. Da mag der eine angreifen und der andere sich verteidigen, aber beide kämpfen.
Auf der Matte bin ich häufig auf Menschen getroffen, die offensichtlich einen Genuss darin fanden, andere zu unterwerfen, ihnen Schmerzen zuzufügen und sie in eine „ausweglose Situation zu zwingen“.
Den vermeintlichen Angreifer in Gestalt eines Übungspartners galt es „aus der Balance zu bringen“ und „in all seinen Bewegungen zu kontrollieren“.
Bei den Haltetechniken wurde trotz Abklopfens „über den Schmerz hinaus gedehnt“.
Eine solche Macht- Position beim Nage kennt nur den eigenen Rausch der Macht.
Das Wohlergehen bzw. das fehlende Wohlergehen des Übungspartners spielt dabei fast keine Rolle.
In Dojos, in denen solche Unterwerfungsrituale wesentlicher Bestandteil des Trainings sind, herrscht oft eine angespannte und streng hierarchische Atmosphäre.
Die Anspannung zeigt sich im Training bei Uke durch eine gespannte Steifheit in den Bewegungen, die letztendlich Schmerz vermeiden will. Bei Nage zeigt sich die Anspannung durch erhöhten Aufwand von Muskelkraft, um den erlebten Widerstand von Uke zu überwinden.
Gesundheit als erstes
Eine entspannte Atmosphäre trägt zu einem fürsorglichen Miteinander bei. Nage und Uke tragen sowohl für sich selbst, als auch für den Partner Verantwortung.
Die gemeinsamen Übungen werden auf der Basis gegenseitigen Vertrauens durchgeführt. Es geht nicht um Dominanz und Unterwerfung, sondern um wohltuende gemeinsame Bewegungen. Nach dem Training können sich alle Beteiligten vitalisiert und gut durchbewegt fühlen.
Die Stimmung in Dojos, bei denen der gesundheitliche Aspekt betont wird, habe ich als leicht, freundlich und humorvoll erlebt. Das Training weckt Lust auf das nächste Mal.
Pädagogisch/ therapeutische Aspekte
Das Training wird als Übungsfeld für persönliche Entwicklung und für Gestaltung von sozialen Beziehungen gesehen. Es geht um Reifungsprozesse der Persönlichkeit und um das Erlernen von Wertschätzung im Umgang mit anderen.
Dazu passt sehr gut das Zitat des Aikido- Begründers, das da lautet:
AIKIDO ist keine Technik, um den Feind zu bekämpfen oder zu besiegen.
Es ist der Weg, die Welt zu versöhnen und aus den Menschen eine Familie zu machen.
In diesem Zusammenhang haben die Bewegungen des Aikido einen ganz besonderen Wert: Es geht darum,
- innerlich und äußerlich in Fluss zu kommen
- einen weichen und dynamischen Umgang mit Energie zu erlernen
- Standfestigkeit und Beweglichkeit zu verbinden
- Wachsamkeit und Aufmerksamkeit für sich selbst und den Übungspartner zu erlernen
- die eigene Positionierung den Umständen entsprechend zu wählen und jederzeit variieren zu können
- innere Stabilität und Aufrichtigkeit zu erlangen
- die Impulse aus der Umgebung aufzunehmen, mit der Kraft zu gehen, anstatt sich dagegen zu stemmen
- die Energie des Atems und die Kraft der Vorstellung zur Ausführung gezielter Bewegung zu nutzen
Schlussbemerkung
Den vorherigen Abschnitt habe ich mit der Frage nach den Absichten eingeleitet.
Ich fände es wünschenswert, wenn in den Trainingshallen und Übungsräumen der Geist des Aikido Einzug halten und wenn ein Austausch über Haltungen und Absichten hinter dem Verhalten stattfinden könnte. So könnten alle Beteiligten, Lehrer wie Schüler, in einem gemeinsamen, transparenten Lernprozess Wirkungen erzeugen, die weit über die Grenzen des Dojos hinaus ausstrahlen.
Eine besondere Verantwortung kommt den Aikido- Lehrern zu.
Ihre Aufgabe ist es, aufmerksam darauf zu achten, dass sich das System der Gruppe bzw. des Vereins nicht verschließt.
Sie haben es in der Hand, die Türen offen zu halten und für Austausch zu sorgen, so dass Entwicklungsimpulse sowohl von außen nach innen als auch von innen nach außen wirken können.
Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn die Repräsentanten der Schulen und Verbände sich einen Blick über den Tellerrand hinaus gönnen und den Mut aufbringen würden, hin und wieder gemeinsam zu trainieren und Bewegungs- Variationen kennen zu lernen.
Der Entwicklung des Aikido würde das jedenfalls gut tun.
Lesen Sie auch Das Aikido-Prinzip in der Psychotherapie